Montag, 20. Januar 2014

Wohlergehen: Der Ort, an dem Veränderung stattfindet (Teil 2)

Interview mit Sandra Ljubinkovic 

Teil 1 zu der Bedeutung von Selbstfürsorge

Übersetzung des Interviews von mir
English version below


Welche Verbindungen zwischen Selbstfürsorge und (feministischem) Aktivismus siehst du? (Warum denkst du, dass es ein wichtiges feministisches Thema ist? Welche Schwierigkeiten gibt es?)

Wie ich weiter oben bereits gesagt habe, ist unsere Kultur des Aktivismus in den meisten Teilen der Welt eine Kultur der „Aufopferung“. Wir opfern unsere Zeit, unseren Raum, unsere Kolleg_innen, Organisationen und Emotionen dafür, in der „vordersten Reihe“ zu sein, „gegen“ etwas zu kämpfen. Aktivist_innen sind nicht gut darin, in ihren eigenen Leben, zwischenmenschlichen Beziehungen, Familien und Organisationen wirklich „präsent“ zu sein, da sie damit beschäftigt sind, äußere Probleme zu lösen. Ein ganzheitlicher Zugang zu Körper-Geist ist notwendig, um alle Aspekte unseres Lebens miteinander zu verbinden: körperlich, geistig, emotional und spirituell. Viele Aktivist_innen sind durch Überstunden, Konflikte, Verluste und dem Gefühl, die Welt retten zu müssen, überfordert. Außerdem sind sie Gewalt und Bedrohungen ausgesetzt sowie zahllosen stressvollen und traumatisierenden Ereignissen. Diese Ereignisse drehen sich um einen Verlust von Verbundenheit – mit uns selbst, mit unseren Körpern, mit unseren Familien und der Welt um uns herum. Dieser Verlust an Verbundenheit lässt sich häufig nur schwer wahrnehmen, weil er nicht auf einmal passiert. Er kann langsam stattfinden, mit der Zeit, und wir passen uns an die subtilen Veränderungen an, ohne sie zu bemerken.

Warum ist es jetzt relevant?

Nachdem ich in den letzten zehn Jahren mit Aktivist_innen weltweit zu Selbstfürsorge und Wohlergehen gearbeitet habe, haben Aktivist_innen langsam damit angefangen, ihre eigenen Bedürfnisse zu definieren – was sie machen, um sich sicher und wohl zu fühlen.

Safe spaces: wirklich geschützte Räume: körperlich, emotional, spirituell, wo sie hinkommen können, sich ausruhen können und sich erlauben können zu fühlen – sich mit sich selbst und miteinander und mit der Welt um sie herum zu verbinden und ihr mit ihrer neuen Aufmerksamkeit für ihre Gedanken, Handlungen, Wahrnehmungen und Bewertungen zu begegnen. Es geht um den Raum zusammenzukommen und sich eine Pause von der Intensität der Arbeit zu gönnen.

Beziehungen aufbauen: In der Arbeit zu Selbstfürsorge und Wohlergehen und in den Verbindungen zu unserem Aktivismus haben in den Workshops und Trainings, die wir angeboten haben, die Aktivist_innen hervorgehoben, dass sie in diesen Räumen ihre Masken abnehmen konnten und eine tiefergehende Verbundenheit mit sich selbst und ihren aktivistischen Communities aufbauen konnten. Das führt zu authentischer Solidarität und Unterstützung, die ohne Bewertungen, eigenen Agendas oder Bedingungen ist.

Zeit: um zu entschleunigen, zu reflektieren, sich auszuruhen, das eigene Leben, die Arbeit, Sicherheit und das Wohlergehen zu analysieren.

Selbstfürsorge ist für viele Aktivist_innen verwirrend, beunruhigend und beängstigend – weil es unvertraut und unbequem ist und zum Kern dessen vordringt, wer wir als Aktivist_innen sind. Aktivist_innen werden selten gefragt, wie es ihnen geht, ob sie irgendetwas brauchen, wie ihre „inneren geheimen Welten“ aussehen. Im Gegenteil – sie sollen sich um ihre Klient_innen, Kolleg_innen, Organisationen und Communities kümmern und an den größeren Bewegungen teilnehmen; standhalten, wenn es schwer wird; in der vordersten Reihe sein, wenn nötig; und niemals Zeit zum Verlangsamen, Ausruhen oder sogar Anhalten haben... weil die Welt um sie herum so bedürftig ist und sie den Eindruck haben, dass alles zerfällt, wenn sie nicht da sind, um sich um diese Bedürfnisse zu kümmern. Irgendwer wird sterben. Organisationen werden geschlossen. Irgendwer könnte in Gefahr sein. Irgendwer könnte mehr Aufmerksamkeit, Hilfe oder Zuwendung als ich brauchen?! Die Weisheit liegt darin zu erkennen, dass wir nicht immer die beste Ressource für andere sind, einschließlich unserer Kinder, Partner_innen, Freund_innen oder Kolleg_innen. Hilfreich sein – eine heilsame Atmosphäre schaffen – braucht sehr viel respektvollen und sensiblen Umgang mit unseren eigenen Verletzlichkeiten und denen von anderen. Die größte Herausforderung ist nicht so zu tun, als wären wir niemals unzulänglich und unverletzbar. Die Wichtigkeit von Selbstfürsorge besteht im experimentellen Lernen (einschließlich dem Verlernen von alten Mustern und dysfunktionalen, aber tief verankerten Werten, während wir verfeinerte und lebensbejahende Werte und Fähigkeiten (wieder) lernen) und in der Unterstützung von anderen Aktivist_innen und Leitungskräften in den Organisationen darin, die Kulturen der Organisationen und Bewegungen zu verändern.

Warum Selbstfürsorge ein wichtiges aktivistisches Thema ist?
Weil es an sich schon etwas Radikales hat – du brauchst eine emotionale Grundlage, um Entscheidungen in Bezug auf Gesellschaft zu treffen. Meine Mit-Aktivistin Lepa Mladjenovic aus Serbien kontextualisiert das Verhältnis von Aktivist_innen zu ihren Emotionen in der tausend Jahre alten Geschichte des Patriarchats, wo uns gelehrt wurde, Vernunft wichtiger als Gefühl zu bewerten. Weil Vernunft mit Männlichkeit (and ich würde ergänzen mit dem „aktiv/machen-Prinzip“) verbunden wird und Gefühl als weiblich (und ich würde ergänzen als „fügsam/sein-Prinzip“) gesehen wird und deswegen in den sozialen Kontexten unserer Welt geringer angesehen wird. Das bedeutet, dass viele Kulturen die Bedeutung unserer Gefühle irgendwie abwerten... zusätzlich sind viele Aktivist_innen Mehrfachdiskriminierungen ausgesetzt, die zu einer weiteren Fragmentierung unserer Gefühlswelten führen. Für mich ist „Sein“ nichts Passives, sondern es geht darum den Raum zu schaffen, um anzuhalten und zu reflektieren sowie Gefühle zu fühlen, sie entfalten zu lassen, anzunehmen und zu transformieren. Das bedeutet nicht, dass es ohne Bewegung stattfindet... es bedeutet eine aufmerksame Beobachtung unserer Gedanken, Gefühle, Muster, Programme, Konzepte... diese anzunehmen und sich weiter zu bewegen.

In meiner Erfahrung als Aktivistin und eine Person, die mit Aktivist_innen weltweit arbeitet, nehme ich wahr, dass wir den Raum öffnen könnten, um pro-aktiver mit uns und der Welt zu sein. Langsam findet es mehr und mehr in verschiedenen Netzwerken, Bündnissen, Organisationen und bei einzelnen Aktivist_innen statt, dass sie an Selbstfürsorge und Wohlergehen arbeiten.

Was meinst du mit pro-aktiv?

Einfach gesagt geht es für mich bei pro-aktiv darum, Räume und die Bereitschaft/Offenheit zu schaffen, die Verantwortung für dich selbst und dein eigenes Leben zu übernehmen, wenn deine Reaktionen bewusst sind und aus einem aufmerksamen Umgang heraus passieren und nicht von vorherigen Erfahrungen oder äußeren Umständen geprägt sind. Je mehr wir daran arbeiten unser Bewusstsein zu schärfen, desto weniger werden wir von vorherigen Erfahrungen geprägt und desto mehr Möglichkeiten haben wir, unsere eigenen Reaktionen zu wählen anstatt auf die automatischen zurückzugreifen (die sich so anfühlen, als würde wer auf unsere empfindlichen Stellen drücken).

Ich hab Aktivist_innen zu der Frage von nachhaltigem Aktivismus, Selbstfürsorge und Wohlergehen interviewt und viele von ihnen haben gesagt, dass der Moment, als sie gelernt haben, in sich selbst zentriert zu sein, als sie sich mit ihren eigenen Quellen verbunden fühlten, als sie nach emotionalen Achterbahnfahrten zu ihrem eigenen Zentrum zurückkehrten, der Punkt ist, an dem Veränderung (persönlich, in der Organisation und in der Welt) stattfindet.

Wenn wir weiter daran arbeiten, Räume zu schaffen, um uns auf die (innere) Welt mit Verbundenheit, Akzeptanz, Aufmerksamkeit, Mitgefühl, Zuneigung, Resonanz, Liebe und Freude zuzubewegen und wir nicht weiter daran arbeiten, Schmerz, Scham, Schuld, Wut, Entfremdung, Anspannung, Erschöpfung und Ignoranz zu re-kreieren, dann sind wir auf dem Weg, uns selbst, unsere Organisationen, unsere Communities und die Welt zu transformieren.

Teil 3 zu Visionen von feministischem Wohlergehen


Weitere Informationen zu Sandra Ljubinkovic
Sandra (MSc in Gender, Rights and Development) ist feministische Aktivistin mit mehr als 15 Jahren professioneller Erfahrung in Frauen- und Minderheitenrechten. Beruflich kommt sie aus der feministischen Beratung, Advocacy- und Lobbyarbeit, Organisationsentwicklung, Community-Building, Entwicklung und Durchführung von Trainings für verschiedene Akteur_innen. Sandra zieht ihr umfangreiches Wissen und ihre Erfahrung aus Community-Organizing, Kampagnen, Leitung von Organisationen, Netzwerken, Entwicklung und Durchführung von Trainings zu Integrated Security und Wohlergehen von Frauenrechtsaktivist_innen auf der ganzen Welt. In letzter Zeit hat sie aktiv Frauenrechtsaktivist_innen darin unterstützt Beziehungen untereinander weltweit aufzubauen, die immer noch miteinander vernetzt sind, Strategien planen, sich empowern, Gesellschaft verändern und gegenseitig ihr Leben, Communities und Bewegungen bereichern.
Sandra ist auch Mitglied des Internationalen Beirats von BRIDGE am Institute of Development Studies in Großbritannien.

In einfacheren Worten, Sandra ist ein freier Geist, Reisende, Vagabundin und genießt ihr Leben in allen Formen in dem Wissen, dass wir mehr sind als unsere Körper, Gedanken, Emotionen, Konzepte und Begehren... Ihr tiefer Wunsch sich mit dem bedingungslosen Sein zu verbinden, das unser endloses Potential ist, erlaubt es ihr, die Dinge geschehen zu lassen, die geschehen :))

Kontakt: sandra.ljubinkovic@gmail.com



English version

Part 1 on the importance of self-care

How do you see self-care connected to (feminist) activism? (Why do you think it is an important activist issue? What are some difficulties?)

As i was mentioning above, our culture of activism is in the most parts of the world - the culture of "sacrifice". We are sacrificing our time, space, colleagues, organizations, emotions by being on the "front lines", fighting "against", activists are misattuned to be really "present" in their own lives, inter-personal relationships, families, organizations by solving all the outer problems of the world. An integrated mind-body approach is necessary for connecting all aspects of our lives: physical, mental, emotional and spiritual. Many activists are overwhelmed by over the clock working hours, conflicts, loss, saving the world and they are exposed to violence and harassment and to countless stressful and traumatic events. These events are about loss of connection - to ourselves, to our bodies, to our families and to the world around us. This loss of connection is often hard to recognize, because it doesn't happen all at once. It can happen slowly, over time, and we adapt to subtle changes sometimes without even noticing them.

Why is it relevant now?

Having been working  in the last 10 years, with activists from around the world on self care and well-being, activists themselves were slowly defining their own needs - what do they do in order to stay safe and well.
SAFE SPACES: truly safe spaces: physically, emotionally, spiritually, where they can come, rest and allow themselves to FEEL - to connect to themselves and each other and the world around them with the new awareness of their thoughts, actions, perceptions and judgements.  It  is about the space to come together and get a break from the intensity inherent in their work.
BUILDING RELATIONSHIPS: work on self-care and well-being and the connection to our activism, in the shape of the workshops and trainings that we were providing for activists, they were highlighting that in this spaces they managed to take their masks off and connect on a deeper level with themselves and their activist community. It brings them to authentic solidarity, support that is without judgement, agendas or strings.
TIME:  to slow down, stop, reflect, rest, assess their personal lives, work, safety and well-being.

Self care is  for many activists very confusing, disturbing and scary - because it remains unknown and uncomfortable and it cuts to the essence of who we are as activists.  Activists are very rarely asked how they feel, if they need anything, how their "inner subtle world" looks like. On the contrary - they are supposed to care for their clients, colleagues, organization, communities, to take part in the bigger movements, to hold when it's hard, to be on the front lines when needed,  and never-ever have time to slow down, rest, or even stop…. because the world around them is so needy and it gives the impression that if they are not there to fill in all those needs - everything will fall apart. Somebody will die. Organization will be shut down. Somebody might be in danger. Somebody needs more attention, help, affection than ME?!  The height of wisdom is to recognize that we are not always the best resource for someone else, including our own children, our partners, or our friends and colleagues. Being helpful—creating a healing aura—requires enormous respectfulness and sensitivity to our own vulnerabilities, and also to those of others. The biggest challenge is when we're pretending to ourselves to be unfailingly adequate and invulnerable.  The importance of self-care, we can see as experiential learning (including un-learning old patterns and dysfunctional but deeply held values while re-learning more refined and life-affirming values and skills) and very important the power of support by other fellow activists and leaders in the organizations to change the cultures of organizations and movements.

Why self-care is an important activist issue?
Because it is radical notion by itself - you need to have emotional basis in order to make choices related to society. My fellow activist Lepa Mladjenovic from Serbia contextualizes activists' relationships with our emotions within the thousand of years of patriarchy that has taught us to value reason over emotion. Because reason is associated with masculinity (and i would add with the "active/DOING principle") and emotion is seen as feminine (i would add "compliant/BEING principle") and therefore less valued in the social contexts around the world. This means that many cultures somehow diminish the significance of emotions… in addition, many activists face multiple discriminations which cause further fragmentation of our emotional realities. I see "Being" not as passive but as creating space to stop and reflect and allow the space for emotions to feel, unfold and embrace and transform. It doesn't mean without movement… it means careful observation of our thoughts, emotions, patterns, programs, concepts… embracing them and moving on.

In my experience, being an activist myself and working with activists around the world, i see we could open the space to be more proactive with ourselves and the world. It is happening slowly more and more in various networks, coalitions, organizations and with individual activists working on self care and well-being.

What do you mean by proactive?

Simply put, for me, proactive is about creating space and readiness/openess to take responsibility for yourself and your own life, when your reactions are mindful and are coming from awareness and they are not determined by the previous experiences or outside circumstances. The more we work on  raising our own Cousciousness, we will be less determined by previous experiences and we will be readier to choose our own reactions instead of automatic ones (feeling that someone is "pressing our buttons").

I was interviewing activists around the issues of sustaining activism, self-care and well being and many of them were saying when they learned to feel 'centered' in their own being, when they felt connected with their own inner sources, when after many emotional roller-coasters they came back to their own center, that THIS IS the point where (personal, organizational, and world) change happens.

If we continue to create spaces to approach the (inner) world from point of connection, acceptance, attention, empathy, affection, resonance, love and joy and we work to no longer re-create pain, shame, guilt, anger, detachment, tension, fatigue and ignorance, then we are on our way to transform ourselves, organizations, communities and the world.

Part 3 on visions of feminist well-being


More information about Sandra Ljubinkovic
Sandra, MSc in Gender, Rights and Development, is a feminist activist with more than 15 years of relevant professional experience in women's and minority rights. Her professional background is in feminist counseling, advocacy and lobbying, organizational development, community building, developing and delivering trainings for various stakeholders. Sandra draws her extensive knowledge and experience from community organizing, advocacy campaigns, managing organizations, networking and developing , managing and delivering trainings and expertise in developing and delivering trainings on Integrated Security and activists' well-being for women's rights defenders around the world. She has been actively supporting networking and facilitating relationships with diverse women's rights defenders throughout the world where they continue connecting, strategizing, empowering, transforming, and contributing to each others lives, communities and movements.
Sandra also serves as a member of the International Advisory Committee for BRIDGE at the Institute of Development Studies in the United Kingdom .

In a simple words, Sandra is free spirit, traveler, vagabond, enjoying life and experiences in all it's forms knowing that we are more then just our bodies, thoughts, emotions, concepts, desires…. Her deep commitment to access the unconditional Being that is our endless potential is bringing her to allow what wants to happen :))

Contact: sandra.ljubinkovic@gmail.com

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