Interview mit Sandra Ljubinkovic
Sandra und ich haben uns über eine weltweite Mailingliste kennengelernt, die Menschen untereinander vernetzt, die Retreats/ Selbstfürsorge-Workshops für Aktivist_innen anbieten oder Retreat Centers aufbauen möchten. Letzten November konnten wir uns endlich persönlich kennenlernen und haben stundenlang über unsere Visionen geredet und uns gegenseitig in unserer Kritik an teuren Entspannungswochenenden für Frauen wiedererkannt. Ich freue mich, dass Sandra ihre jahrzehntelangen Erfahrungen auf meinem Blog teilt.
Die Übersetzung des Interviews ist von mir.
English version below
Sandra, stell dich doch kurz vor.
In den letzten zehn Jahren habe ich mit Kolleg_innen auf der ganzen Welt das Konzept von Integrated Security (integrierter Sicherheit) und Wohlergehen von Frauenmenschenrechtsaktivist_innen und LSBT-Rechtsaktivist_innen global entwickelt und damit gearbeitet. Es ist ein ganzheitlicher Ansatz, der verständlich macht, welchen körperlichen und psychologischen Preis die Körper und Seelen von Frauenrechts- und LSBTIQ-Rechtsaktivist_innen zahlen müssen. Diese Arbeit baut auf der Initiative, geteilten Erfahrungen, Konzepten und Werkzeugen auf, die von Individuen, Aktivist_innen und Organisationen entwickelt wurden. Es geht darum, Aktivist_innen, Organisationen und Bewegungen zu stärken, mit der Perspektive, dass die Gesundheit (körperlich, geistig, emotional und spirituell) und die Sicherheit von Frauenrechtsaktivist_innen und LGBTIQ-Aktivist_innen untrennbar mit eben diesen Communities, Organisationen und Bewegungen verbunden sind.
Was bedeutet Selbstfürsorge/ Wohlergehen für dich?
Ich habe immer daran geglaubt, dass wir mehr als die Summe unserer Körperteie sind. Bevor ich Aktivistin wurde, habe ich als Physiotherapeutin mit professionellen Sportler_innen in Serbien gearbeitet, was mittlerweile mehr als 18 Jahre her ist. Ich hab gesehen, wie erfolgsorientierte Menschen die besten Ergebnisse mit ihren Körpern erzielen wollten, wie sie ihre Körper mit endlosen Stunden von Training gefoltert und ausgelaugt haben und sie waren komplett unverbunden mit ihrem Geist und ihrer Seele. Als ich in den 90ern in den feministischen Aktivismus in Serbien eingetaucht bin, war die Situation das genaue Gegenteil – die meisten Aktivist_innen lebten in ihrem Kopf/ Geist, komplett unverbunden mit ihren Körpern und Seelen. Viele Jahre an Selbsterforschung und Selbstreflektion haben mich zu den verschiedensten Orten auf dem Planeten gebracht, es hat mich an die Grenzen von Wissenschaft, Energiearbeit, Heilen, Selbstheilen und Spiritualität gebracht. Ich bin gereist, hab verschiedene Techniken erforscht, die alle Aspekte unserer Seins miteinander verbinden... Ich bin durch meinen eigenen Heilprozess gegangen... und hab dabei gelernt, alles, was ich bin, anzunehmen, alle Wunden, Ängste, Erwartungen; dabei hab ich meine Sicherheiten verändert oder verloren; bin da geblieben, wenn mich Konflikte immer weiter herausgefordert haben; hab losgelassen und mich weiter bewegt; hab mich traurig, wütend und freudvoll gefühlt; hab mich in der Gesellschaft von anderen Aktivist_innen unsicher gefühlt; hab die Angst gespürt, von anderen zurückgewiesen zu werden, wenn ich es ihnen nicht recht mache; hab mich von Menschen verraten gefühlt, denen ich vertraut habe; hab mein eigenes Potential angenommen, meine Schattenseiten; hab meine Vergangenheit und meine Verluste betrauert; hab mehr gegeben, als ich eigentlich konnte; hab mich schuldig gefühlt, weil ich mir frei genommen hab; hab Fehler gemacht und Erfolge gehabt und endlich gewusst, was ich will...
Selbstfürsorge oder Wohlerfehen bedeutet für mich ganz zu sein, den Raum zu haben oder zu schaffen mich selbst tiefer kennenzulernen, bis an den Kern, durch meine eigenen Begrenzungen, Vorurteile, inneren Kritiker_innen, Ängsten, Traumas, Wut, Wunden, Schmerz hindurchzugehen und mir selbst den Raum zu erlauben zu trauern, loszulassen, alles anzunehmen, willkommen zu heißen ohne Bewertung, ohne daran zu denken, was andere denken könnten, es in der Fülle zu fühlen, zu weinen und die tiefgreifende Erfahrung zu machen gehalten zu werden, mehr Vertrauen zu haben, keine Angst zu haben zu stoppen oder zu reflektieren, nicht neurotisch durch Aktivismus und das Leben zu rennen, weil ich denke, dass, wenn ich es nicht mache, ich „weniger Aktivist_in“ oder „nicht gut genug“ bin oder mich schuldig fühle, weil die Welt untergehen würde, wenn ich mir frei nehme oder wenn ich für einen Moment innehalte... Unsere neurotische Angst hält uns an weiterzumachen, laugt uns aus, verbrennt uns, voller Angst und Beschuldigungen und vergiftet unsere Beziehungen.
Auf meinem eigenen Weg von Heilung und persönlichem Wachstum als Aktivistin und Menschenrechtlerin hab ich mir erlaubt anzuhalten. Für drei Monate. Und weißt du was? Die Welt ist nicht untergegangen. Sie hat sich weiter bewegt. Nur ich hab angehalten. Etwas an dieser Nicht-Bewegung war so aufregend... irgendeine neue Qualität ist in dieser „Stille“ und „Nicht-Bewegung“ entstanden. Ich war sehr fasziniert von diesen inneren „Bewegungen“... ich konnte meine Ängste, meine Schuldgefühle, meine Wut, meine Wunden sehen und sie bis in ihren Kern erspüren, ohne sie zu verurteilen... ich hab verstanden, dass es meine verwundeteten Teile waren, die mich eingeladen haben, sie anzunehmen und zu heilen.
Viele Aktivist_innen, mit denen ich gearbeitet habe, wissen, dass ihre Körper mehr sind, als sie sich bislang getraut haben zu erkunden. Sie wissen, dass sie ihren Körper, Geist und Seele (falsch) behandeln und ihren Schmerz jahrelang mit sich herumtragen und festhalten. Manchmal ist Schmerz da, um von ihm zu lernen, um durch ihn hindurch zu gehen und ihn anzunehmen. Ich mag das Wort „verletzte_r Heiler_in“ welches sich psychologisch bezieht auf „die Fähigkeit mit dem Leiden zuhause zu sein und dort Möglichkeiten der Regeneration zu finden“. Durch unsere Wunden hindurchzugehen bedeutet zu realisieren, dass wir nie wieder die gleichen sein werden, wenn wir auf der anderen Seite des Prozesses ankommen. Durch unsere Wunden lernen wir einen Teil von uns kennen, der nicht verwundet ist. Unsere Wunden sind dann nicht das Hindernis zu unserer Ganzheit, sondern ein Ausdruck davon, da wir ohne unsere Wunden nicht den Teil von uns kennengelernt hätten, der ganz, frei, geheilt und aufmerksam ist.
Es kann so viel Freude bringen, mit deinem Körper verbunden zu sein, durch all deine Gedanken, Gefühle und Erinnerungen hindurch zu gehen und sie anzunehmen, die uns mit unserer Spiritualität in Verbindung bringen. Wenn sich Aktivist_innen auf „Selbsterfahrung“ einlassen, dann realisieren sie häufig versteckte Potentiale, was eine sehr aufbauende Erfahrung ist.
Teil 2 zu Verbindungen zwischen Selbstfürsorge und Aktivismus
Teil 3 zu Visionen von feministischem Wohlergehen
Weitere Informationen zu Sandra Ljubinkovic
Sandra (MSc in Gender, Rights and Development) ist feministische Aktivistin mit mehr als 15 Jahren professioneller Erfahrung in Frauen- und Minderheitenrechten. Beruflich kommt sie aus der feministischen Beratung, Advocacy- und Lobbyarbeit, Organisationsentwicklung, Community-Building, Entwicklung und Durchführung von Trainings für verschiedene Akteur_innen. Sandra zieht ihr umfangreiches Wissen und ihre Erfahrung aus Community-Organizing, Kampagnen, Leitung von Organisationen, Netzwerken, Entwicklung und Durchführung von Trainings zu Integrated Security und Wohlergehen von Frauenrechtsaktivist_innen auf der ganzen Welt. In letzter Zeit hat sie aktiv Frauenrechtsaktivist_innen darin unterstützt Beziehungen untereinander weltweit aufzubauen, die immer noch miteinander vernetzt sind, Strategien planen, sich empowern, Gesellschaft verändern und gegenseitig ihr Leben, Communities und Bewegungen bereichern.
Sandra ist auch Mitglied des Internationalen Beirats von BRIDGE am Institute of Development Studies in Großbritannien.
In einfacheren Worten, Sandra ist ein freier Geist, Reisende, Vagabundin und genießt ihr Leben in allen Formen in dem Wissen, dass wir mehr sind als unsere Körper, Gedanken, Emotionen, Konzepte und Begehren... Ihr tiefer Wunsch sich mit dem bedingungslosen Sein zu verbinden, das unser endloses Potential ist, erlaubt es ihr, die Dinge geschehen zu lassen, die geschehen :))
Kontakt: sandra.ljubinkovic@gmail.com
English version:
Sandra, tell us something about yourself
In the last 10 years i have been developing and working with other colleagues from around the world on the issue of Integrated Security and Well-being of Women's Human Rights Defenders-(W)HRD and LGBT rights defenders globally. It's a holistic approach that offers understanding the importance of physical and psychological toll that human rights defense has taken on women's and LGBTIQ defenders bodies and spirits. This work has built on initiatives, shared experiences, concepts and tools developed by individuals, defenders and organizations. It is about sustaining activists, organizations and movements through the lenses that the health (physical, mental, emotional and spiritual) and safety of WHRD and LGBTIQ defenders/activists that are inseparably linked to these same communities, organizations and movements.
What does self-care/ well-being mean to you?
I have always believed that we are more than just a sum of our body parts. Before i became an activist, i worked as physiotherapist with professional sport players in Serbia which is now more than 18 years ago. i have witnessed how high achievers were trying to achieve best results with their bodies, they were torturing and exhausting their bodies with endless hours of training, exercising and they were totally disconnected from the mind and spirit. Once i jumped into feminist activism in Serbia in the '90s, the situation was exactly the opposite - most activists were living in their head/mind, totally disconnected from their bodies and spirits. For many years, self-research and self-inquiry brought me to the various places on the planet, it brought me to the edge of science, energo-work, healing, self-healing and spirituality. I was traveling, researching various techniques that integrate all aspects of our being… i went through my own personal healing journey… learning to embrace all who i am, all wounds, fears, expectations, changing or loosing the safety, staying when conflicts kept challenging me, letting go and moving on, feeling sad, angry or joyous, feeling unsafe in company of fellow activists, feeling the fear of rejection by others if i don't please them, betrayal by the ones i trusted, embracing my own potential, my shadow side, grieving the past or any loss, giving more than i could handle, feeling guilty if i take time off, failing or succeeding and finally knowing what i want….
Self-care or well-being for me means being whole, having and creating space to get to know myself deeper, to the core, walk through my own limitations, prejudices, inner critic, fears, traumas, anger, wounds, pain, allowing myself space to grief, let it go, embrace all of it, welcome it without judgement, without thinking what other may think, feel it to the fullness, cry and feel that profound experience of being held, having more trust, not being afraid to stop and reflect, not neurotically run through activism and life because if you don't do it, then you are "less of an activist", or "not good enough", or feeling guilty when we take time off since this world will absolutely fall apart if we stop for a moment….Our neurotic fear keeps us running, makes us totally drained, burned out, tired, full of anger, blame and intoxicates all our relationships.
On my own way of healing and personal growing as an activist, leader, human rights advocate, i allowed myself to stop. For 3 months. And you know what? the world did not fall apart. It was still moving. Only I stopped. There was something SO exciting in this non-movement… some new quality was emerging in this "silence" and "non movement". I was absolutely fascinated by this inner "movements"… i could see my fears, guilt, anger, wounds, feel them to the core, without judgement…. i understood that they were all my wounded parts that were inviting me to embrace them and to heal them.
Many activists I have worked with know that there is a lot more to their bodies than they have ever dared to explore. They know that they are (mis)treating their bodies, minds and Souls and carrying and holding their pain over the years. Sometimes pain is there to learn from it, to walk THROUGH it and embrace it. I like the word "Wounded Healer" which refers psychologically to "the capacity to be at home with the shadow of suffering and there to find gems to light and recovery". Going through our wound means realizing that we will never be the same again when we get to the other side of this initial process. Through our wound we are introduced to the part of ourselves that is NOT wounded. Our wound is then not the obstruction but the expression of our wholeness, as without wound we wouldn't be introduced to our part of us that is whole, free, healed and awake.
There is so much joy to be had from being in connection with your body, walking through and embracing all our thoughts and feelings, memories that brings us in connection with our spiritual nature. When activists open up for "self-experiencing" then they often realise how much hidden potential they have, which is a very uplifting experience.
Part 2 on connections between self-care and activism
Part 3 on visions of feminist well-being
More information about Sandra Ljubinkovic
Sandra, MSc in Gender, Rights and Development, is a feminist activist with more than 15 years of relevant professional experience in women's and minority rights. Her professional background is in feminist counseling, advocacy and lobbying, organizational development, community building, developing and delivering trainings for various stakeholders. Sandra draws her extensive knowledge and experience from community organizing, advocacy campaigns, managing organizations, networking and developing , managing and delivering trainings and expertise in developing and delivering trainings on Integrated Security and activists' well-being for women's rights defenders around the world. She has been actively supporting networking and facilitating relationships with diverse women's rights defenders throughout the world where they continue connecting, strategizing, empowering, transforming, and contributing to each others lives, communities and movements.
Sandra also serves as a member of the International Advisory Committee for BRIDGE at the Institute of Development Studies in the United Kingdom .
In a simple words, Sandra is free spirit, traveler, vagabond, enjoying life and experiences in all it's forms knowing that we are more then just our bodies, thoughts, emotions, concepts, desires…. Her deep commitment to access the unconditional Being that is our endless potential is bringing her to allow what wants to happen :))
Contact: sandra.ljubinkovic@gmail.com
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