Gestern hat eine Freundin mich gefragt, wie ich es finden würde, wenn ein_e Kolleg_in von mir tagelang mit Erkältung zur Arbeit käme. Sie hat angedeutet, dass ich wahrscheinlich denken würde, dass die Person gerade nicht so gut für sich sorgt. Für mich war diese Einladung zu einem Perspektivwechsel ein wichtiger Aha-Moment und ich konnte nicht anders als ihr zuzustimmen.
In mir gibt es eine deutliche Stimme, die ich "Toughen up" nennen würde. Die Stimme sagt mir, dass es mit etwas Zähnezusammenbeißen gehen wird. Meine Grenzen sind noch nicht wirklich erreicht, meine Ressourcen noch nicht wirklich aufgebraucht.
Ich merke, dass es bei einer Schonhaltung nicht wirklich um die Frage geht, ob eine Situation noch erträglich ist oder nicht. Bei einer Schonhaltung geht es darum, einen Puffer zwischen dem momentanen Befinden und den eigenen Grenzen einzufügen. Ich muss nicht immer austesten, wie viel noch geht, bevor ich an meine Grenzen stoße, ich kann es mir auch in etwas Entfernung bequem machen. Immer mit dem Wissen, dass ich mir diesen Puffer nicht in jeder Situation aussuchen kann. Es gibt auch Momente, da kann ich nicht selbst darüber entscheiden, ob ich mich schonen möchte oder nicht, weil eine Situation über mich hereinbricht, mit der ich einen Umgang finden muss. Umso wichtiger eigentlich, mir diese Schonmomente in Zeiten zu schaffen, in denen dies möglich ist.
Hier sind einige Fragen, die ich mir auch selbst stellen möchte, um mich einer Schonhaltung anzunähern:
- Wo liegt die Grenze zwischen "Ich fühl mich wohl." und "Ich fühl mich okay."? Was sind erste Anzeichen, wenn ich von dem einen Zustand in den anderne wechsle?
- In welchen Situationen und Kontexten könnte ich mir öfters eine Schonhaltung erlauben?
- In welchen Situationen und Kontexten kann ich mir das nicht aussuchen? Und wie gehe ich damit um?
- Was bedeutet es für mich konkret, mich zu schonen? Was sind meine Schonpraxen? (Meine ersten Ideen: etwas später kommen, etwas langsamer machen, Auszeiten nehmen, Sachen zurückweisen, die mir nicht gut tun, ...)
In Andrea Smiths Text "The Problem with 'Privilege'" zitiert sie Ruth Wilson Gilmore, die sagt
safe space is not an escape from the real, but a place to practice the real we want to bring into beingAndrea Smith schreibt darüber, dass wir erstmal von keiner Verbundenheit miteinander ausgehen können, nur weil wir gesellschaftlich ähnlich positioniert sind oder uns ähnliche Identitäten zugeschrieben werden. Statt davon auszugehen, dass ihn geschützten Räumen keine Diskriminierung oder Gewalt stattfinden kann, plädiert sie dafür, sich mit der eigenen Kompliz_innenschaft mit Machtverhältnissen auseinanderzusetzen und nach kollektiven Strategien zur politischen Veränderung zu suchen.
(ein sicherer Raum bietet keine Zuflucht vor der Wirklichkeit, er ist ein Ort, an dem wir die Wirklichkeit üben können, die wir ins Leben rufen möchten)
- Wie merkst du, dass es Zeit ist, dich zu schonen?
- Was tust du, um dich zu schonen?
- In welche Räume begibst du dich, um dich zu schonen? Welche Räume meidest du?
- Was zeichnet deine Schonräume aus? Was bräuchtest du von diesen Räumen, um dich noch besser schonen zu können?
- Gibt es in deinen Schonräumen Menschen, die nicht geschont werden? Ist dies eine bewusste Entscheidung (z.B. kein Schonen von Typen in feministischen Räumen) oder werden hier Machtverhältnisse oder Dominanzstrukturen re_produziert?